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    Die Stille brechen – Teil 3

    • Autorenbild: Kat S.
      Kat S.
    • 28. Okt. 2022
    • 5 Min. Lesezeit

    Aktualisiert: 30. Dez. 2022



    Es ist wieder 05.30 Uhr morgens und nach einer erholsamen und gut geschlafenen Nacht erwache ich und bin bereit aufzustehen. Viel leichter als gestern heben sich meine Beine aus dem Bett und meine 2-3 morgendlichen Tätigkeiten laufen bewusst und freundlich ab. Freundlich, in Hinblick auf den Shit-Storm der mich gestern plagte und von dem nun nichts mehr zu sehen ist. Der Morgen bricht an, ich breche auf und gehe hinunter in den Innenhof, wo uns wieder eine Session Kinhin – die Gehmeditation – erwartet. Ich setze mich erneut mit den 30 anderen Zen-Schülern in Gang.


    Diesmal jedoch ist alles anders: ich spüre eine frische, fast schon lebendige Freude in mir. Ich bin mir bewusst über mein Dasein und Hier sein, atme die angenehm frische Morgenluft ein, höre das unheimlich laute und fröhliche Vogelkonzert über mir und betrachte den Himmel, der mit jeder Minute mehr Morgensonne tankt und sich über mir erhellt. Ich fühle Dankbarkeit – ein warmes und unerschütterliches Gefühl in meinem Herzen, das mich wissen lässt, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Ich erinnere mich daran, wie lange ich mich hier drauf gefreut habe, mir vorgestellt habe, in Stille mit anderen zu meditieren und mich selbst dabei zu erfahren.


    Mir wird bewusst, dass es im Leben genau darum immer wieder geht: sich selbst zu erfahren. Was erlebe ich, wenn ich das tue? Wie geht es mir wenn ich dies erlebe? Was fühle ich bei dieser oder jener Begegnung? Was macht es mit mir, wenn sich Hürden und Hindernisse vor mir auftun? Gestern Morgen habe ich mich zerknirscht und unbewusst erfahren. Heute darf ich feststellen:


    Die Veränderung macht den Unterschied.


    Es hat sich etwas in mir verändert. Die Wut – und Ärgergedanken des gestrigen Morgens sind durchlebt worden. Ich habe sie gehört, gefühlt, gesehen und los gelassen. Ich habe den Widerstand wahrgenommen und ihn angenommen, sodass er sich langsam auflösen konnte. Er durfte da sein und in gefühlt letzter Sekunde konnte ich ihn aus meiner Beobachterperspektive freundlich annehmen und gehen lassen. Ich bin bewusst geworden. In so manchen Büchern habe ich schon mehrfach von dieser „(Un-) Bewusstheit“ gelesen doch mein intellektueller Kopf konnte es nicht begreifen. Bewusstheit ist nicht auf der Ebene unseres Verstandes erklärbar – so paradox es auch klingt. Denn es ist gerade unser Verstand mit all seinen Ideen, Unterscheidungen, Erklärungsversuchen und Ablenkungen, der uns aus der Bewusstheit heraus zieht.


    An diesem Sonntagmorgen am Benediktushof erlebe ich mich und das Hier und Jetzt bewusst.


    Wenn ich gehe, dann gehe ich.

    Wenn ich atme, dann atme ich.

    Wenn ich höre, dann lausche ich.


    Ich bin mir der Ganzheit dieser Gegenwärtigkeit bewusst. Damit einher geht ein Gefühl tiefer Verbundenheit mit der Natur und Erde. Mein Inneres wird zum Außen und das Äußere gelangt über den Atem in mein Inneres. In diesem Zustand lösen sich die Trennungen, die mein Ego so gern mag, einfach auf. Zen bedeutet, alle Unterschiede aufzugeben und in das Jetzt einzutauchen; einen Raum zu kreieren, wo ich einfach nur bin. Dasein. So-Sein. Sein.


    Mir dieser Verbundenheit bewusst, kann ich sie über den Ort und die Zeit ausdehnen. Ich erlebe mich als Teil dieser Welt und die ganze Welt als Teil von mir.


    Besonders deutlich wird dies, wenn die Mahlzeiten anstehen und wir zum achtsamen Essen eingeladen sind. Bevor ich anfange zu essen, betrachte ich mein Mahl und mache mir bewusst, wer an der Zubereitung und Darreichung beteiligt war: die Sonne, der Regen, der Wind. Bauern, die die Saat säten oder die Kühe melkten. Groß- und Kleinhändler, die die Waren vertrieben. Köche, die den Frühstücksbrei kochten und Küchenhilfen, die das Geschirr wuschen. Und auch weitere Ressourcen wie Strom, Wasser, Gas, Öl trugen an irgendeiner Stelle der WERT-Schöpfung dazu bei, dass ich nun hier sitzen und genießen kann. Sich dieser Kette von Kausalitäten bewusst zu werden, weckt große Dankbarkeit und Demut vor der Natur und den Menschen in mir. Unzählige trugen ihren Teil dazu bei und ich darf nun den ersten Löffel Porridge des Tages zu mir nehmen.


    Alles ist mit allem verbunden.


    Der letzte Tag meines Zen-Kurses endet heute mit dem Mittagessen. Heute werde ich noch mal mit der Bedeutung des Schweigens konfrontiert. Das ganze Wochenende war das Schweigen unsere gemeinsame Grundlage. Beim Essen, beim Gehen, in den Pausen, im Kurs – alles fand im Schweigen statt. Ich fühle mich damit sehr wohl und es fällt mir leicht, mich daran zu halten. Ich kommuniziere auch kaum non-verbal und bleibe möglichst in mir versunken.


    Wir sind aufgefordert unsere Zimmer bis 10 Uhr zu räumen und die Koffer ins Foyer zu stellen. Beim Packen fällt mir auf, dass ich meine Mütze verloren habe. Ich beginne zu suchen, durchwühle meinen Koffer und Taschen. Ganz sicher ist mir die Unruhe und Verwirrung anzusehen. Da plötzlich spricht mich ein anderer Teilnehmer meines Zen-Kurses an: „Hast du vielleicht deine Mütze verloren? Ich habe da oben so eine rot-braune auf dem Treppenabsatz liegen sehen!?“ Eine große Freude und Erleichterung breitet sich in mir aus und ich antworte ihm, dass ich genau das tue und danke ihm mehrmals für seine Hilfe. Kurze Zeit später sind meine Sachen dann vollständig. Diese Unterhaltung inmitten des angeordneten Schweigens weckt abrupt eine intensive Frage in mir:


    Welche Worte sind es Wert, die Stille zu brechen?


    In diesem Moment sind es Worte der Freundlichkeit, Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft. Es sind Worte der Menschlichkeit. Eine weitere dieser schönen Erfahrung darf ich direkt nach dem Mittagessen machen. Auch dieses letzte Mahl wird im Schweigen eingenommen. Doch um 12.30 Uhr verkündet eine Mitarbeiterin des Benediktushofs: „Ihr dürft euch jetzt unterhalten. Das Schweigen ist gebrochen.“


    Da dieses Wochenende ein Zen-Kinder-Kurs stattfindet, beginnt in dieser Ecke des Raumes sofort ein lebendiges und lautes Geschnatter. An meinem Tisch bleibt es noch eine Minute still bis die ersten Fragen und Kommentare gesprochen werden. Ein magischer Moment, die eigene Stimme und vor allem die der anderen wieder zu hören. Schwäbische, fränkische, bayerische und hessische Dialekte tönen um mich herum und ich strahle vor Freude. Mir wird bewusst, wie identitäts-stiftend Sprache ist und wie sehr sie uns verbindet – oder leider auch trennt. Schließlich stimme ich in die Gespräche mit ein.


    Doch es bleibt nicht viel Zeit für Small Talk. Ich spüre, wie der Genuss der Stille in mir nachschwingt und auch meine Mitmenschen scheinen den Moment des Abschieds vom Schweigen noch etwas heraus zögern zu wollen. Dies gelingt, indem wir uns voneinander verabschieden und jeder seine Rückreise antritt.


    Und auch für mich heißt es Abschied nehmen von der Stille. Die vierstündige Rückreise verbringe ich im Auto mit meiner Mitfahrerin und ihrer kleinen Tochter. Vier Stunden lang herrscht nicht eine Minute lang Stille und ich bin im Frieden damit. JETZT darf es auch wieder SO SEIN. Auch hier darf ich wieder etwas lernen: wir erleben und erfahren uns besonders im Kontrast.


    Danke. Namasté.

     
     
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